Aus: "Vermutlich Vollkost -- Geschichten aus der Anstalt"

 

Essenszeit

 

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Die dritte, letzte und für viele wichtigste Funktion der Tengelmann-ist-Gelände-Regelung bestand in der Nahrungsmittelversorgung. Eifrige Asterix-Leser kennen die wesentliche Prämisse des Kochens für die Truppe: "Je besser die Armee, desto schlechter das Essen." Gemessen an diesem Grundsatz war das Klinikum Haar an manchen Tagen ein wirklich gutes Krankenhaus. Ändern wir an dieser Stelle die Perspektive, oder anders gesagt, schweifen wir noch weiter von den aktuellen Ereignissen ab, die - nur zur Erinnerung - derzeit darin bestehen, dass sich Frau Dr. Namenlos anschickt, sich auf eine verzweifelte Suche nach Victoria zu begeben, während der gerade dabei ist, eine dem Leser derzeit noch unbekannte dritte Person fortgesetzt zu verwirren, und wenden wir uns, sicher nicht zum letzten Mal im Verlauf des Textes, dem Thema Catering zu.

Wer im Lexikon die Bedeutung des Verbs to cater nachschlägt wird feststellen, dass es in seiner ursprünglichen Aussage soviel hieß wie auf jemanden zielen. Daß der Akt des auf jemanden Zielens eine gemeinhin feindliche Grundhaltung zum Ausdruck bringt wird nirgends sonst so klar wie in der durchschnittlichen Großküche.

Auf Station LXII kündigte sich das Unheil zweimal täglich durch ein mechanisches Piepsen an, verursacht von einem LKW, der einige Stunden vor den angedrohten Essenszeiten im Rückwärtsgang auf die hauseigene Entladerampe zufuhr. Ein großer, auf Rollen montierter, metallener Container wurde dann in die Küche geschoben, und eine freundliche Seele vom Pflegepersonal erbarmte sich, ihn an die extra dafür vorgesehene Starkstromversorgung anzuschließen. In dem Container, so erfährt man auf Nachfrage, befindet sich etwas, das als Nahrung bezeichnet werden muß, da es noch nicht lange genug den Gesetzen der Thermodymanik ausgesetzt war, um als moderne Kunst durchzugehen, und der Starkstromanschluß dient dazu, diese Proto-Nahrung von einem klotzförmig-tiefgefrorenen in einen erwärmt-essbaren Zustand überzuführen. Zwei weitere Male am Tag ertönt dann ein Piepsen von eher elektronischer, dafür um so nervtötenderer Qualität, das nicht nur das Ende dieses Vorgangs anzeigt, sondern auch ein Ritual in Gang setzt, auf das der Übersichtlichkeit halber erst später eingegangen werden soll und das darin mündet, dass sich mindestens sechzehn von zwanzig Patienten über ihr Essen beschweren, was die anderen vier veranlasst, sich über das Essen der sechzehn anderen mitzubeschweren. In besonders schweren Fällen werden diese Beschwerden direkt ins Pflegebeüro getragen, in mittelschweren sind sie Thema beim so genannten Meeting, ein weiteres der noch zu erörternden Stationsrituale, in allen Fällen aber liefern sie willkommenen Gesprächsstoff für den obligatorischen Gang zum Tengelmann. Oft genug ging es dabei darum, aus welchen Gründen es der Küche nicht gelang, etwas Vernünftiges auf den Tisch zu zaubern. Aber auch hierauf gibt Asterix die Antwort: "Das hält die Krieger bei schlechter Laune..."

Victoria war es gelungen, gleich in der ersten Woche seines Aufenthaltes auf dem Wege des reverse engeneering das Rezept für die Nürnberger Rostbratwürste herauszufinden.

Man öffne je ein 100-Liter-Gebinde Sauerkraut und Kartoffelpüree und gebe einen großen Löffel Krauts und einen nicht ganz so großen des Pürees auf ein Teller. Anschließend gebe man ein halbes Dutzend kleiner Bratwürste für maximal fünf Sekunden in mäßig heißes Fett, so dass sie auf einer Seite einen blassbraunen Streifen bekommen, ansonsten aber roh bleiben. Man drapiere die Würstl auf der Kraut-und-Püree-Misere, gebe einen Schuß Instant-Bratensoße, Geschmacksrichtung "Leitungswasser" darüber, friere das ganze ein und stelle es in den Essenswagen, und zwar auf die Wärmeplatte, die nicht funktioniert. Nachdem das ganze solchermaßen per LKW vom einen Ende des Klinikums zum anderen transportiert worden war und anschließend nur unzureichend aufgetaut wurde kann man es dem Patienten vorsetzen. Schnell breiteten sich Gerüchte aus, die Marktleitung von Tengelmann würde sowohl Küchenpersonal als auch den Wartungsdienst für die Essenswagen zu Sabotageakten bestechen.

"Solche Gerüchte entbehren natürlich jeglicher Grundlage", sagte Victoria, "aber ich bin in letzter Zeit immer ganz gut gefahren, indem ich den wichtigsten Kantinengrundatz beherzigt habe: Bestelle nie etwas, was aus den Resten vom Vortag gemacht werden kann."
"Ich weiß", sagte Tajira, "ich bin schon a bissl länger hier als Du..."
Tajira war eine von Victorias Mitpatientinnen und verwirrt. Sie hätte nicht gezögert, ihr selbst eine gewisse Grundverwirrtheit als Normalzustand zuzugestehen, aber Gespräche mit Victoria schöpften aus diesem Reservoir und verursachten ihrer Verwirrung gelegentliche Spitzen bisher unbekannten Ausmaßes.
Sie war mit der planmäßigen Ich-hab-nach'm-Mittagessen-nix-Karawane zu Tengelmann aufgebrochen und hatte dort Victoria getroffen. Victoria übte eine gewisse Faszination auf sie aus, so wie andere Menschen fasziniert sind von atonaler Zwölftonmusik. Am Gummibärenregal hatte sie ihn gefragt, was er hier denn mache, die Antwort dauerte nun schon eineinhalb Stunden.

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