Meine Lage der Nation – und ein Nachruf auf Dieter Hildebrandt

Dieter Hildebrandt ist tot. Das war die erschreckendste Nachricht des Tages. Dieter Hildebrandt, geboren im gleichen Jahr wie mein Vater, und auch in einer ähnlichen Rolle, nicht nur als Vater des politischen Kabaretts Nachkriegsdeutschlands, auch geistiger Ziehvater, für mich, für viele, für ganze Generationen. Ich schließe ich dem Kreis derer an, die sich befleißigen, einen Nachruf auf ihn zu schreiben, auf ihn, der – und dieser Satz wird in keinem Nachruf auf Dieter Hildebrandt fehlen – die politische Kultur in unserem Land maßgeblich geprägt hat.

Und während ich darüber nachdenke schweifen meine Gedanken ab, weg von der Todesnachricht, hin zu jener Kultur, und fast möchte man den Verstorbenen beglückwünschen, dass er das alles nun nicht mehr mit ansehen muss. Denn die politische und auch sonstige Kultur in unserem Land hat sich verändert.

Dieter Hildebrandt ist tot, und mir graust schon vor den Dumpfbacken und Vollpfosten, polemisierenden Schwachmaten eher minderer Intelligenz, die sich auf ihn berufen oder sich sogar in seiner Nachfolge stehend betrachten und dabei noch nicht mal richtig Deutsch können, und deren Vorstellung von Humor nicht über das ewig gleiche Repertoire fader Schwanz-und-Klöten-Witze hinausgeht, weil sie es, zugegeben, nicht besser wissen.

Wozu auch noch Feingeist, wenn Nachrichten, die länger sind als ein Tweed (früher mal der Name eines Stoffes) von der Generation U30 (früher mal der Name eines Kriegsschiffes) ohnehin kaum mehr gelesen, geschweige denn verstanden werden. Bartlose Pimpfe provozieren Prügelattacken, damit man sich auch einmal als Opfer darstellen kann, denn damit erntet man Wutbürgers Wählerstimme. Digitale Portale informieren uns zeitnah über die neuesten Skandale, das ganze immer fein zensiert von der Schere im Kopf und dem Brett vorm Hirn, wichtig hier auch die Scheuklappen, aus Leichtmetall und aerodynamisch, damit sie nicht gleich bei jeder Bö aufflattern und damit ja niemand auf die Idee kommt, auch nur ein Jota von der veröffentlichten Meinung abzuweichen. Auf Gutsprech heißt sich dies seinen Standpunkt verteidigen, an sich ja nicht von Übel, vergisst nur das Gutmensch vor lauter Nabelschau allzu gerne, dass sich um ihn herum auch noch interessantes Gelände befindet. Auf diesen Wiesen mähen radikale Krakeeler, die sich dabei freilich – wie oben schon beschrieben, und hier schließt sich der Kreis – auch nur auf der verzweifelten Suche nach der Opferrolle befinden, um daraus gesellschaftliches Kapital zu schlagen.

Daran krankt unsere Zeit, an dieser permanenten Suche nach der Opferrolle. Entsprechend hat die Generation Opfer auch nichts anderes zu tun, als sich andauernd gegenseitig zu dissen (früher mal der Name einer Stadt bei Osnabrück), denn wer sonst schon nichts ist, ist dann zumindest Opfer. Da kann man dann rumschreien, Leute verklagen, Sachen durch die Gegend werfen oder einfach nur allgemein angefressen sein, und dann kommt man auch auf RTL II. Immer und um jeden Preis irgend jemandes oder irgend etwas' Opfer sein zu wollen – und immer unter immanenter Verhöhnung "echter" Opfer – das kann zur Sucht werden. Und so ekelhaft diese Sprachentwicklung auch ist, so wundert es dann doch nicht, dass das Wort mittlerweile zum Schimpfwort avanciert ist.

Nun mag man mir ankreiden, dass ich gar nicht befugt bin, eine solche Meinung zur Lage der Nation zu haben, nicht zu reden davon, sie zu äußern. Nicht nur fehlt es mir an Lebensjahren, auch andere Schlüsselqualifikationen erbringe ich nicht. Weder stand ich vor Wackersdorf auf Barrikaden, noch lag ich vor Madrid im Schützengraben, und auch auf Kronstadt war ich nicht dabei. Dafür denke ich die meiste Zeit über für mich selber. Manchmal sage ich auch, was ich denke. Selten schreibe ich es, und noch seltener wird es dann auch gedruckt. Wie es – und um damit wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen – im Wikipedia-Artikel über Dieter Hildebrandt so schön heißt: "Er hatte zwei Brüder; einer starb jung, der andere wurde später Journalist." Zwei Zustände, die gelegentlich nicht ohne weiteres unterscheidbar sind. Dass ich nicht vorhabe, meine höheren Hirnfunktionen und all deren Folgeerscheinungen vor dem Tod meines Restkörpers aufzugeben, verdanke ich auch meinem geistigen Ziehvater.

Wir sehen uns, Herr Hildebrandt, auf bald!

 

 


 

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